Passagiere im Kegelkeller

Märkische Allgemeine
06.06.2007

von Jörg Giese

Alle Neune!

Ein großer Wurf: Die Neuköllner Oper lädt mit der Revue Passagiere im Kegelkeller zu einer musikalischen Zeitreise in den Untergrund ein.

Seit beinahe 100 Jahren ist die Passage Neukölln das kulturelle Herz des Stadtteils. Hier wurde getanzt, gefeiert und diskutiert. Die einen suchten im Ballsaal nach der großen Liebe, andere nach Ablenkung im Lichtspielhaus, während nebenan Redner für ihre politischen Ideen warben. Damals wie heute sind dort ein Kino, Restaurants und Ladengeschäfte untergebracht. Zur Eröffnung 1910 lockten außerdem sechs Kegelbahnen zum Amüsement in den Keller.

Doch hier rollt schon seit Jahrzehnten keine Kugel mehr. Im Auftrag der Neuköllner Oper, seit 1988 ebenfalls Mieter in dem Ensemble, steigt jetzt das Trio schindelkilliusdutschke in den Untergrund, um diese verwunschene Berliner Vergnügungsstätte dem Vergessen zu entreißen.

Nach dem Abstieg gelangt man durch einen schmalen Durchgang in den ersten Keller. Inmitten von Schutt und Kabelgewirr verrät nur noch die Rücklaufrinne für die Kugeln der Kegler die ursprüngliche Bestimmung des Ortes. Im zweiten Raum stehen noch die Maschinen, mit denen die Kegel aufgestellt wurden. Auch sie sind in einem traurigen Zustand. Aus dem Hintergrund werden die Erinnerungen eines Zeitzeugen eingespielt: "Früher haben wir ja die Kegel noch von Hand aufgestellt 100 Mal in einer halben Stunde."

Zwei Kraftzentren haben die Passage Neukölln immer bestimmt: das Ringen ums politisch-seelische Heil des Menschen und das Vergnügen an Tanz und Spiel. Wie eng beides beieinander liegt, zeigt schon die Installation, die auf den Resten der Kegelbahn aufgebaut ist, an deren Längsseiten die Zuschauer Platz nehmen. Auf das Modell einer Stadtlandschaft lässt Volker Schindel langsam einige Kugeln zurollen. Sie bleiben zwar kurz vor den ersten Häuschen liegen. Trotzdem ist klar: Auch wer sich für die Unterhaltung und gegen das Engagement entscheidet, bleibt von den Auswirkungen der Politik nicht verschont.

schindelkilliusdutschke haben sich gegen eine historisch-erläuternde Inszenierung entschieden und gehen assoziativ vor. Tobias Dutschke spielt eine Schellackplatte mit der "Keglerpolka" ab, Rainer Killius singt ein Lied aus "Des Knaben Wunderhorn", Volker Schindel gibt das Beethoven-Menuett in der Bearbeitung des Zitherklubs 1897 Neukölln zum Besten. Dazwischen dann politische Texte wie Hanns Eislers "Lob des Sozialismus" oder Biermanns "Commandante Che Guevara". Nach dem Wechsel in den zweiten Raum lädt Schindel die Zuschauer ein, auch einmal eine Kugel zu schieben. Killius fordert währenddessen zum Tanzen auf. Als die Zuschauer wieder sitzen, klingelt ein Telefon. Eine alte Frau erinnert sich an den Besuch der Operette "Land des Lächelns" im Winter 1946/47. Die Aufführung war provisorisch, Heizung gab es nicht und dennoch ist ihre Stimme noch heute beseelt von der Erinnerung an diesen Moment.

Wie in einer Geisterstunde kommen und gehen die Klänge. Verzaubert von den verschrobenen Inszenierungsideen und beeindruckt von der raffinierten Dramaturgie, verlassen die Passagiere den Kegelkeller nur widerwillig. schindelkilliusdutschke ist mit dieser Revue buchstäblich ein großer Wurf gelungen. Alle Neune!